Digitalisierung: Noch ein weiter Weg zu gehen
19-06-2017 - Später als andere Branchen entdeckt jetzt auch das deutsche Gesundheitswesen die Möglichkeiten der Digitalisierung. Befürworter sehen große Chancen für Qualitätsverbesserungen und Kostensenkungen. Kritiker fürchten einen mangelnden Datenschutz. Bei allem Für und Wider dürfen wir den Menschen bzw. den Patienten nicht vergessen. In einer Diskussionsrunde bei der Friedrich-Ebert-Stiftung beim Humanistentag 2017 in Nürnberg gab Martina Stamm-Fibich einen Einblick zum Stand der „Digitalisierung im Gesundheitswesen“.
Patientinnen und Patienten entwickeln ein verändertes Anspruchsverhalten nicht nur in Bezug auf die medizinische Leistung, sondern auch in Bezug auf sämtliche Services rund um die Medizin. In anderen Branchen erfährt der Patient bereits, wie reibungslos Prozesse in elektronischer Form funktionieren.
So erhält er beispielsweise elektronische Flugtickets, die er nur mit seinem Smartphone nutzt, führt Videokonferenzen durch und kann Filme „streamen“. Früher oder später fragt er sich dann, wieso er eigentlich kein elektronisches Rezept auf dem Smartphone erhält, wieso in manchen Arztpraxen die Wartezimmer so voll sind, obwohl ein fester Termin vereinbart wurde und wieso man nicht über E-Mail mit der Arztpraxis kommunizieren und beispielsweise Laborergebnisse austauschen kann.
Der Patient wird bequemere und effektivere Prozesse einfordern, wie er sie auch außerhalb der Medizin kennt. Er wird nach telemedizinischen Angeboten suchen, wenn Anfahrtswege zur Arztpraxis zu umständlich sind und zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Das Angebot könnte dann sogar überregional oder weltweit zur Verfügung stehen.
Letztendlich werden immer weniger Ärzte oder die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens entscheiden, welche Regeln gut für den Patienten sind, sondern mehr und mehr der Patient selbst.
Nach mehr als 10 Jahren ist 2015 mit dem E-Health-Gesetz endlich Schwung in die Digitalisierung des Gesundheitswesens gekommen. Die Videosprechstunde, die telemedizinische Befundbeurteilung bei Röntgenaufnahmen, der elektronische Arztbrief oder der Medikationsplan bringen greifbare Vorteile für die Patientinnen und Patienten. Dieser Weg muss konsequent fortgesetzt werden. Als nächste Schritte stehen die Notfalldaten auf der elektronischen Gesundheitskarte, die elektronische Patientenakte, das Patientenfach und die Einbindung mobiler Anwendungen an.
Mit dem E-Health-Gesetz haben wir in dieser Legislatur die Grundlage für ein sicheres digitales Datennetz im Gesundheitswesen gelegt. Darauf aufbauend müssen jetzt entschlossen weitere Schritte gegangen werden. Dazu gehört auch, Erkenntnisse und Erfahrungen, die jeden Tag auf der Welt im Umgang mit Krankheiten gemacht werden, für die Menschen in Deutschland in Zukunft besser nutzbar zu machen.
Unser Ziel ist, dass jeder Arzt, jeder Patient und jeder Forscher in Zukunft Zugang zu den für ihn erforderlichen Informationen hat. Dies führt zu passgenaueren Diagnose- und Behandlungsentscheidungen, schafft neue Erkenntnisse für die Forschung und Versorgung und trägt dazu bei, die Versorgung noch besser zu machen.
Mit der Sammlung und Zusammenführung von Gesundheitsdaten wird die bisher eher stiefmütterlich betriebene Versorgungsforschung erheblich Auftrieb erhalten. Aber für mich ist klar: Datenschatz und Datenschutz gehören zusammen. Nur so können wir als Gesellschaft von der digitalen Gesundheitsförderung profitieren.
Während wir der einen Milliarde Euro für die misslungene Entwicklung der elektronischen Patientenakte nachtrauern, haben die USA seit 2009 rund 30 Milliarden Dollar in die Entwicklung der IT-Landschaft im Gesundheitswesen investiert.
Und während wir denken, dass uns mit dem E-Health-Gesetz der große Wurf gelungen ist, haben die Österreicher mit ELGA eine elektronische Gesundheitsakte eingeführt. ELGA sorgt für einen sicheren, orts- und zeitunabhängigen Zugang zu wichtigen Gesundheitsdaten. Das Informationssystem ist für Patientinnen und Patienten, Krankenhäuser, niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Apotheken und Pflegeeinrichtungen.Kosten: 170 Millionen Euro für die Einführung bis 2017, Betrieb 18 Millionen Euro/Jahr, prognostizierte Einsparungen im Gesundheitswesen 129 Millionen Euro/Jahr.
Auch unser Gesundheitssystem bedarf politischer Weichenstellungen. Jedoch werden diese nicht revolutionärer Natur sein, sondern stets nur graduelle Weiterentwicklungen des Bestehenden. Als Politiker müssen wir sehr vielfältige Interessen berücksichtigen. Wir befinden uns in Koalitionen und müssen Konsense finden. Und ich kann Ihnen berichten, wie lange und hart wir oft um einzelne Wörter in Gesetzen ringen.
Zudem haben wir es mit einem sehr mächtigen Apparat der Selbstverwaltung zu tun. Als die zwei mächtigsten Institutionen sehe ich den Gemeinsamen Bundesausschuss und den GKV-Spitzenverband. Die Digitalisierung bedeutet eine Veränderung unseres gesamten individuellen und gesellschaftlichen Gefüges. Das müssen wir ernst nehmen.