Der Brexit - Folgen für das Gesundheitswesen
14-07-2016 - Der 23. Juni 2016 wird in die europäische Geschichte eingehen als jener Tag, an dem eines der großen europäischen Länder für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) gestimmt hat. Die Briten haben sich mit 52 Prozent entschieden, aus der EU auszutreten. Die Entscheidung hat in allen Bevölkerungsteilen zu Verunsicherung geführt. Ohne Zweifel wird der „Brexit“ auch im britischen Gesundheitswesen Spuren hinterlassen.
Die britische Ärzteschaft, die mehrheitlich für einen EU-Verbleib war und ist, steht unter Schock. Im staatlichen britischen Gesundheitswesen (National Health Service, NHS) spürt man Ratlosigkeit und Verunsicherung. Nach Einschätzung einiger gesundheitspolitischer Beobachter in London wird sich das Gesundheitswesen durch den EU-Austritt gravierend verändern.
Welche Konsequenzen der Brexit genau für die Arztpraxen, Krankenhäuser, die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) mit Sitz in London und andere Gesundheitseinrichtungen auf der Insel haben wird, darüber wird derzeit viel spekuliert.
Laut dem Londoner Gesundheitsministerium beschäftigen der NHS und die sozialen Dienste rund 130.000 europäische Arbeitskräfte, darunter auch tausende Ärzte. Viele der Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte sind verunsichert darüber, wie lange sie noch in Großbritannien arbeiten dürfen. Bisher galt für deutsche Ärzte und Pflegekräfte bei einer Tätigkeit in England Visafreiheit.
Da der britische Gesundheitsdienst stark von Personal aus dem Ausland abhängig ist, werden einige Krankenhäuser voraussichtlich schließen müssen oder zumindest mit einem extremen Personalnotstand zu kämpfen haben, darüber sind sich Fachleute einig. Oder die Briten gestehen sich ein, dass sie die Versorgungssicherheit ohne ausländische Kräfte nicht gewährleisten können und befreien Pflegekräfte und Ärzte von der drohenden Visumspflicht.
Tatsache ist, dass der NHS ohne die Einwanderer nicht über die Runden kommt. Denn Großbritannien hat, um Kosten zu sparen, lange Zeit zu wenig eigenes medizinisches Personal ausgebildet. Stattdessen heuerten die Briten billige und gut qualifizierte Mitarbeiter aus dem Ausland an. Allerdings ist zu befürchten, dass dringend benötigte medizinische Fachkräfte aus dem Ausland wegen des Brexit einen Bogen um Großbritannien machen. Die Zweifel, ob sie auf der Insel willkommen sind und die Abwertung des britischen Pfunds seit dem Referendum, könnten viele Pfleger und Ärzte davon abhalten nach Großbritannien zu gehen.
Auch für Patienten könnte der Brexit einiges verändern. Eines der Hauptargumente der Brexit-Befürworter ist, dass zu viele ausländische Patienten die NHS-Praxen und Kliniken überfüllten und britischen Patienten die Konsultationen wegschnappten. Zwar weisen Experten darauf hin, dass es in erster Linie eine chronische Unterfinanzierung des NHS durch die Londoner Regierung ist, die zu den Versorgungsengpässen und langen Wartezeiten sowie immer mehr Patienten-Kostenselbstbeteiligungen führen. Doch war diese anti-europäische Stimmungsmache ein wichtiger Faktor, der viele Briten zu einem „Vote Leave“ (für den Austritt) auf dem Stimmzettel veranlasste.
EU-Patienten können sich in Großbritannien behandeln lassen. Zwar ist dafür in der Regel (Notfälle sind ausgenommen) eine europäische Versicherungskarte (EHIC) erforderlich. Doch in der staatlichen Primärmedizin ist es so, dass sich Deutsche, Spanier, Franzosen und andere EU-Bürger bei einem örtlichen Hausarzt als Patienten einschreiben und behandeln lassen können, ohne eine EHIC-Karte vorzuweisen. Zwischen 2005 und 2014 entbanden in Großbritannien rund 475 000 Mütter aus anderen EU-Ländern in britischen Kliniken. Brexit-Befürworter behaupten, die gesundheitliche Versorgung anderer EU-Patienten koste Milliarden.
Es ist allerdings schwer, diese Zahlen zu verifizieren. Laut dem britischen Gesundheitsministerium forderte Großbritannien im Haushaltsjahr 2013/14 lediglich 50,3 Millionen Pfund von anderen EU-Staaten für Behandlungskosten in England zurück. Zugleich bezahlte Großbritannien 2013/14 aber rund 750 Millionen Pfund an andere EU-Länder für die Behandlung britischer Patienten im Ausland.
„Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund. Unterstützen wir damit lieber unseren NHS“, so lautete eines der wichtigsten Wahlversprechen der Brexit-Befürworter. Inzwischen musste sich das Brexit-Lager aber eingestehen, dass das Wahlkampfversprechen nicht eingelöst werden kann. Schon alleine deshalb, weil der britische EU-Beitrag nicht 350 Millionen Pfund beträgt, sondern netto nur 150 Millionen Pfund.
Am Churchuill Place Nummer 30 in London hat die europäische Arzneimittelbehörde EMA ihren Hauptsitz. Die European Medicines Agency ist eine Behörde der Europäischen Union, verantwortlich für die wissenschaftliche Bewertung, Überwachung und Sicherheitskontrolle von Arzneimitteln, die von Pharmakonzernen für den Gebrauch in der EU entwickelt worden sind. Die Fachleute der EMA analysieren die Anträge, die Arzneimittelhersteller für die Zulassung von neuen Produkten einreichen, sie werten Daten von Studien aus und sie beurteilen Wirkungen und Nebenwirkungen sowie Nutzen und Risiko. Das Urteil der EMA-Gremien entscheidet oft über Millionen oder Milliarden des Jahresumsatzes eines Pharma-Unternehmens. Nach der amerikanischen FDA (U.S. Food and Drug Administration) ist die EMA die mächtigste Zulassungsbehörde weltweit. Wenn aber nun Großbritannien aus der EU austritt, kann diese Behörde dann noch von London aus agieren?
Aus meiner Sicht lautet die Antwort Nein. Von deutscher Seite wurden bereits Forderungen laut, die sich Bonn oder Frankfurt am Main als neuen Standort der EMA wünschen. Letztlich wird die Frage eines neuen Standortes auf Spitzenebene in Brüssel entschieden. Dabei stellt Deutschland nur eine Stimme unter 27 Staaten dar.
Aus dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hört man derzeit, dass sich am Procedere der europaweiten Zulassung zunächst einmal nichts ändern wird. Die Regularien sind unverändert und akut wird sich nach der Brexit-Abstimmung nichts ändern.
Die EMA hat vor allem koordinierende Funktion. Je Zulassungsverfahren für ein bestimmtes neues Medikament gibt es üblicherweise zwei federführende Länder, sie stellen den „Rapporteur“ und „Co-Rapporteur“. Der Rapporteuer kommt meist aus einem Land, das besonders große Expertise für das betreffende Therapiefeld aufweist. Im Fall Deutschland sind das nach BfArM-Angaben etwa Krebs und Diabetes.
Zudem ist damit zu rechnen, dass das Pfund gegenüber anderen Währungen an Wert verlieren wird. Und die britische Gesundheitsindustrie ist, trotz des einen oder anderen Weltkonzerns, nicht so stark, als dass sie den Versorgungsbedarf aus eigenen Kräften stemmen könnte. Es ist zu erwarten, dass in Zukunft in Großbritannien Arzneimittel und Medizinprodukte teurer werden. Unter den Vorzeichen einer globalisierten Welt ist kaum eine Nation noch in der Lage, nationale Alleingänge mit wirtschaftlichem Erfolg auf die Beine zu stellen.
Die Zukunft ist ungewiss, denn der Brexit wirft viele Fragen auf, auf die erst noch Antworten gefunden werden müssen. Diese Antworten müssen in den kommenden zwei Jahren in den Austrittsverhandlungen zwischen Großbritannien und der EU gefunden werden. Auf das deutsche Gesundheitssystem wird der Brexit-Beschluss aber kaum Einfluss haben.